In der Oktober 2010-Ausgabe von Medaon diskutiert Sebastian Voigt (Leipzig) an den prominenten Biographien Daniel Cohn-Bendits und Pierre Goldmans die politische Radikalisierung vieler jüdischer Intellektueller im Pariser Mai von 1968 und fragt nach der Relevanz einer spezifischen Erfahrungsgeschichte zwischen Shoah und Résistance für diese Entwicklung.
Angela Schwarz (Hamburg) zeichnet in ihrem Beitrag die Genese des jüdischen Stiftungswesens in Hamburg seit dem frühen 18. Jahrhundert nach. So zeigt sie die Bedingungen des – gemessen am Bevölkerungsanteil – überproportionalen Engagements von Juden auf und verortet deren besondere Sensibilität für die sozialen Probleme im Urbanisierungsprozess des 19. Jahrhunderts in einem ausgeprägten präventiven Charakter jüdischer Wohltätigkeit.
Aspekten des eigensinnigen diskursiven Integrationsprozesses von russischsprachigen Zuwanderern in Israel zwischen 1989 und 2000 widmet sich Lou Bohlen (Bochum). Unter Rückgriff auf vor Ort geführte Interviews und russischsprachige Tagespresse präsentiert sie eine Vielzahl migrantischer Identitätsentwürfe, die sich dem normativen Gebot des israelischen Staates von „Heimat“ und „Diaspora“ nicht unterwerfen.
Berna Pekesen (Bochum) skizziert bei schwieriger Quellenlage die antijüdischen Pogrome im türkischen Ostthrakien und in der Dardanellenregion im Sommer 1934. Sie kontextualisiert diese in der türkischen Nationsbildung, insbesondere in der Minderheiten-, Siedlungs- und Bevölkerungspolitik der kemalistischen Republik, und verweist auf die ausbleibende Beachtung der historischen Ereignisse in der Forschung.
Die Darstellung Überlebender der Shoah im Spielfilm steht im Mittelpunkt der Analyse von Asal Dardan (Berlin). Sie spürt der Repräsentation der lebensweltlichen Erschütterung auch über die Befreiung von nationalsozialistischer Verfolgung hinaus in Arthur Millers nahezu vergessenem Werk „The Man in the Glass Booth“ (USA 1975) nach.
Johannes Wiggering (Leipzig) gibt Einblicke in die Rolle jüdischer Wissenschaftler und Funktionäre in der Gründungsphase der Weißrussischen Staatsuniversität in Minsk Anfang der 1920er Jahre vor dem Hintergrund des Konfliktes um die Ausgestaltung des akademischen Ortes zwischen nationalkulturellem Zentrum und seiner Instrumentalisierung als Bildungsstätte sozialistischer Kader.
Simone Gigliotti (Wellington, Neuseeland) und Marc Masurovsky (Washington D.C.) stellen Konzept und derzeitigen Arbeitsstand einer Fallstudie zu einzelnen Evakuationen des Vernichtungslagers Auschwitz vor. Der Versuch, eine komplexe geo-historische Visualisierung der Vorgänge vom Januar 1945 zu erarbeiten, ist Teil des Projektes „Holocaust Geographies“, einer an die Stanford University (Kalifornien, USA) angebundenen Kooperation verschiedener amerikanischer Institutionen.
In der Reihe „Jüdische Schriftstellerinnen – wieder entdeckt“ erinnert Jana Mikota (Siegen) an das Wirken Fanny Arnsteins in der Wiener Salonkultur des 18. und späten 19. Jahrhunderts. Joachim Albrecht (Kamenz) wirft ein Schlaglicht auf die fortwährenden Bemühungen jüdischer Einwohner Dresdens um 1800 um Teilhabe am öffentlichen Raum und insbesondere um das Aufenthaltsrecht im Linckeschen Bad als einem attraktiven zeitgenössischen Ort gesundheitlicher Pflege und Fürsorge.
Janine Doerry (Hannover) kommentiert anhand eines hier dokumentierten Schreibens des Maison du Prisonnier de la Seine (Haus des Kriegsgefangenen des Departements Seine) vom Mai 1943 die Möglichkeiten, jüdische Frauen von französischen Kriegsgefangenen vor der nationalsozialistischen Verfolgung zu schützen. Die Quelle veröffentlichen wir im französischen Originalwortlaut, ergänzt um eine Übersetzung. Ebenso zweisprachig legen wir den begleitenden Beitrag von Doerry vor. Erst jüngst wurde im Landeskirchenarchiv der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens das Archiv des von 1871 bis 1935 wirkenden Evangelisch-Lutherischen Zentralvereins für Mission unter Israel als Bestand situiert. Die Leiterin des Landeskirchenarchives, Carlies Maria Raddatz-Breidbach (Dresden), stellt diesen Zugang zur Dachorganisation europäischer Judenmissionsgesellschaften, der nur in Teilen überliefert ist, vor. Ulrike Pilarczyk (Braunschweig) gibt an ausgewählten Beispielen Einblick in die im Zuge des bildungshistorischen DFG-Projektes „Wandering Images – Die Darstellung jüdisch/israelischer Gemeinschaftserziehung auf Fotografien aus Deutschland und Israel von 1920 bis 1970“ entstandene Sammlung historischer Bildzeugnisse. Diese, von privater und institutioneller Provenienz, sollen nach abgeschlossener Digitalisierung vollumfänglich online und somit leicht zugänglich der weiterführenden Forschung zur Verfügung stehen.
Der Verein erinnern.at legte 2007 die Doppel-DVD „Das Vermächtnis. Verfolgung und Widerstand im Nationalsozialismus“ vor, für die ausgewählte lebensgeschichtliche Interviews mit Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung in Österreich nebst pädagogischen Begleitmaterial für die historisch-politische Bildungsarbeit aufbereitet wurden. Dorothee Wein und Gerda Klingenböck (beide Berlin) würdigen kritisch deren Aufbau wie didaktisches Potential. Gleiches unternimmt Heike Liebsch (Dresden) mit dem online-Lernportal „Spurensuche – Jüdische Friedhöfe in Deutschland“ des Salomon Ludwig Steinheim-Institutes für deutsch-jüdische Geschichte.
Wie gewohnt vermisst eine Reihe von Rezensionen wissenschaftliche Publikationen, aber auch die 2010 im Jüdischen Museum Frankfurt am Main präsentierte Sonderausstellung „Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik“.
Die aktuelle Ausgabe von Medaon wäre ohne die Unterstützung von Wendy Anne Kopisch, Y. Marcela Garcia, Phillip Roth, Stefan Schwarz und allen Gutachterinnen und Gutachtern nicht zustande gekommen; die Korrektur besorgten Cathleen Bürgelt sowie Gunther Gebhard und Steffen Schröter von text plus form – die Redaktion dankt ihnen herzlich.
Die Redaktion von Medaon im Oktober 2010
Autor(en): Redaktion Medaon,
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